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Entwirrte Dinge

Anthony Cragg im MKM Museum Küppersmühle

Anthony Cragg, der selbst maßgeblich und direkt vor Ort an der Konzeption und Präsentation der Ausstellung mitgewirkt hat, möchte mit seinen Werken nicht provozieren und das tut auch die Duisburger Ausstellung nicht. Vielmehr möchte er eine Art Störung des Gewohnten und des Gewöhnlichen herbeiführen und den Menschen neue Perspektiven eröffnen. Er möchte die Betrachterin und den Betrachter zum Staunen bringen und wie schon Platon wusste, ist das Staunen der Anfang jeder Erkenntnis.

 

Anthony Craggs Skulpturen gelingt es aber nicht nur durch ihre ungewöhnlich dynamische Formgebung die Blicke an sich zu ziehen, sondern auch - oder vor allem - durch ihre große Qualität und Formvollendung, die als Indizien der herausragenden künstlerischen Fertigkeit ihres Erschaffers zu lesen sind.

 

Tony Cragg, Installationsansicht MKM Runner, 2009; Elbow, 2010; Is is it isn't, 2010; Ever after (Bronze), 2010; Ever after (Holz), 2006 (v.l.n.r.) © VG Bild-Kunst, Bonn / Foto Michael Richter

 

 

„Es gibt immer mehr Möglichkeiten der Form, als ersichtlich sind. Es gibt viel mehr Dinge, die es nicht gibt, als Dinge, die es gibt”, sagt Anthony Cragg in einem Gespräch mit dem Museumsdirektor Walter Smerling. Er beschreibt damit nicht nur seine künstlerische Inspirationsquelle, sondern gibt desgleichen Einblick in seine künstlerische Herangehensweise.

 

Die Dinge entstehen zunächst einmal im Kopf. Die Skulpturen, die Anthony Cragg erschafft, sind keine bloßen Nachahmungen von Dingen, die es so bereits gibt, sondern sie sind „eigenständige Energien”, die durch Material Form finden.

 

In einer Gesellschaft, in der wir tagtäglich von Informationen und Eindrücken überflutet werden, in der uns der geschäftige Alltag stets im Griff hat und in der wir ständig mit gedanklichen Regelwerken und Vorschriften wie man zu sein, zu handeln und zu denken hat, konfrontiert sind, bleibt uns nicht viel anderes übrig, als nach Funktionalität, Effizienz und Nützlichkeit der Dinge zu fragen. Im Gegenzug wird alles Überflüssige ausgeblendet und jeder gedankliche Umweg, jede wirre Idee, bereits im Kopf unterdrückt.

 

Wenn es einem Menschen aber gelingt, diesem gedanklichen Regelwerk, dieser sinnlichen Einschränkung und emotionalen Abstumpfung - auch nur kurzfristig - zu entfliehen, so werden Dinge im Kopf frei gesetzt, die es so (noch) nicht gibt. Wenn es diesem Menschen zudem gelingt, diese Dinge im Kopf in künstlerische Gestalt zu packen, so ist das ein schöpferischer Akt.

 

Tony Cragg, Untitled, 2005 Bleistift auf Papier, 51,2x52,2 cm © VG Bild-Kunst, Bonn / Foto: David Kaluza

 

 

Die Zeichnungen von Anthony Cragg lassen uns an einer Phase innerhalb des Schaffungsprozesses teilhaben, in der die Dinge im Kopf noch nicht greifbar sind. Es sind nicht die herkömmlichen Zeichnungen eines Bildhauers, die ihm als Skizze eines bereits durchdachten Werkes dienen. Vielmehr sind sie erste Ansätze und Ideen, die er mit Bleistift zu Papier bringt und die ihm dabei helfen seine Gedanken zu entwirren und in Objekte zu transformieren.
Jede seiner Arbeiten entsteht im Fluss und ist das Ergebnis einer ganzen Kette von Entscheidungen. Für den Bildhauer Anthony Cragg ist der Ausgangspunkt der Skulptur aber nicht die Idee im Kopf oder die Zeichnung auf Papier. Nein, für ihn ist es einzig das Material, denn mit der Entscheidung des Materials werden der - noch im Entstehen begriffenen - Skulptur zugleich Möglichkeiten eröffnet wie Grenzen gesetzt. Und jede vollendete Arbeit wirft Fragen auf: Was wäre entstanden, wenn man an einem Punkt im Entstehungsprozess eine andere künstlerische Entscheidung getroffen hätte? Anthony Cragg beschreibt es folgendermaßen: „Sobald eine Skulptur fertig ist, stehe ich im Grunde genommen schon vor der nächsten, vor neuen Wegen, die man gehen könnte, oder Formen, die ich ausprobieren muss.”

 

Betrachtet man die frühen Arbeiten aus den 1970er und 1980er Jahren, wie etwa in der Photographie des 1975 entstanden „Stack”, so begegnet man oftmals gestapelten Skulpturen, die aus unterschiedlichen Gegenständen und Materialien zusammengesetzt sind. Holzlatten, Marmorplatten, Stoffreste, Plastikmüll, zusammengerollte Zeitungen, beeinflusst von der englischen Land Art arbeitet Anthony Cragg in den ersten Schaffensjahren wie ein intuitiver Aufspürer und Sammler alltäglicher Gegenstände, die er dann installativ und kontextuell in seinen Kunstwerken zusammenführt.

 

Tony Cragg, Riot, 1987 Kunststoff, 235x1570x7 cm Rosa and Gilberto Sandretto Collection, Milan © VG Bild-Kunst, Bonn / Foto: Archivio fotografico Tucci Russo (Ausschnitt)

 

 

Das Prinzip des Sammelns und Stapelns findet sich auch in den späteren Arbeiten wieder. In dem Wandrelief „Riot” aus dem Jahr 1987, setzt Anthony Cragg etliche gefundene Kunststoffelemente zu einem raumgreifenden Aufruhr zusammen. Die mosaikhafte Zusammenfügung der gesammelten Abfall-Fragmente verdeutlicht die innere Bewegung, jene essentielle Unruhe der Aufrührenden. Friesartig bewegen sie sich entlang der Wand und besitzen eine ebenso große Präsenz wie politische Aktualität, wie uns der Blick in die Tageszeitungen so deutlich vor Augen führt. Schade ist nur, dass die enorme Kraft und Autonomie dieses Aufruhrs im MKM durch die Einfügung unabhängiger Skulpturen im Raum gebremst wird.

 

Tony Cragg, Eroded Landscape, 1998 Sandgestrahltes Glas, 252x150x150 cm © VG Bild-Kunst, Bonn / Foto: Marianne Franke

 

 

Elf Jahre später stapelt er in „Eroded Landscape” Gläser, Flaschen und Gefäße aus sandgestrahltem Glas zu einer eineinhalb Meter breiten und zweieinhalb Meter hohen Skulptur übereinander, die zugleich anmutig, fragil und kraftvoll wirkt.

 

Im großen Ausstellungsraum treffen fünf skulpturale Arbeiten zusammen, die als Repräsentantinnen der Craggschen Material-, Form- und Oberflächenvielfalt gelesen werden können: Holz, geformter Gips, gegossene Bronze und Stahl, symmetrische Gebilde, aber auch kantige und spiralförmige Objekte, samtig glatte sowie löchrige Oberflächen und rostige Strukturen.

 

In der Skulptur „Unschärferelation” aus dem Jahr 1991 verbindet Anthony Cragg hölzernen Gegenstände des Alltags, wie Tisch, Stuhl, Hammer, Stock und Kiste und übersät diese über und über mit Holzgriffen und Holzknäufen. Der Titel geht auf die gleichnamige Theorie von Werner Heisenberg zurück, in der es um das Aufbrechen von Form und Kontur und die Veränderbarkeit von scheinbar statischen Gegenständen geht. Wenn sich der Betrachtende ein wenig von dem hölzernen Ensemble entfernt, so kann dieser selbst das Aufbrechen der Kontur und das Verschwimmen der Umrisse beobachten.

 

Tony Cragg, Installationsansicht MKM Forminifera, 1997 (l.), Bodicea, 1989 (r.) © VG Bild-Kunst, Bonn / Foto: Michael Richter

 

 

„Forminifera” aus dem Jahr 1997 ist ein Ensemble aus sechs Gipsobjekten, die zum Teil auf Stahlelementen positioniert sind. So sehr sich die einzelnen Gipsobjekte in ihrer Form und Positionierung unterscheiden, so sehr gleichen sie sich in ihrer materiellen Beschaffenheit und Oberflächenstruktur: naturweißer Gips, dessen Oberfläche durchgehend gelöchert ist.

 

Tony Cragg, Bodicea, 1989 Bronze, Holz, 87x195x190 cm © VG Bild-Kunst, Bonn / Foto: Michael Richter

 

 

Ende der 1980er Jahre entsteht die Bronzeskulptur „Bodicea”, die sich wie eine gereifte Traubenrebe, über einen Holzbalken windet. Die Schwere der Trauben ist fast spürbar und die formschönen Rundungen der Oberflächenstruktur und ihre satte Farbigkeit mit den türkisbraunen Farbverläufen erinnern an den süßen Geschmack warmer Spätsommertage.

 

Monumental entfaltet sich auch der viereinhalb Meter hohe und drei mal drei Meter breite „Condensor” aus rostigem Stahl im Ausstellungsraum.
Aus am Boden liegenden Klumpen entspringen zwei gerade Stäbe, die weit in die Höhe ragen und spiralförmig - gleich zweier rostiger Tauchsiedler - zurück zum Boden verlaufen.

 

Tony Cragg, Early Forms, 1993 Bronze, 60x65x60 cm © VG Bild-Kunst, Bonn / Foto: Charles Duprat

 

 

Im Hintergrund windet sich auf den Boden die Bronzeplastik „Early Form St. Gallen” aus dem Jahr 1997, die - gemeinsam mit „Early Forms” aus dem Jahr 1993 und weiteren Plastiken - den, für den Künstler so charakteristischen Umgang mit dem Material Bronze verkörpert: Der Künstler erschafft gegossene Einheiten voller Dynamik und Autonomie, deren monochromen, samtig matten Oberflächen, das Licht sanft brechen. Anthony Cragg entwickelt sich zunehmend zu einem erpichten Formfinder, dessen Werke immer vollkommener, immer perfekter und immer glatter werden. Die raue, kantige, gar brüchige Materialität seiner frühen Werke, wird zu einer zunehmend fließenden materiellen Einheit von höchster Präzision und Sinnlichkeit. Man ist fast geneigt zu sagen, dass seine Skulpturen immer schöner werden. Das Streben nach Schönheit ist jedoch ein äußerst ernsthaftes und bisweilen verbissenes Unterfangen. Umso wohltuender ist es, dass Anthony Craggs immer schöner werdende Skulpturen nicht an Leichtigkeit einbüßen und sich in ihnen immer wieder überraschend humoristische Momente finden.

 

Der Ausstellung scheint es vorrangig um die Präsentation möglichst vieler großer Werke zu gehen. Dieses eifrige Bestreben nach Vielfalt, Fülle und Größe führt jedoch zu mehr oder weniger gelungenen Korrespondenzen zwischen den großen und größeren Skulpturen und mitunter zur Enge. Die Skulpturen von Anthony Cragg schreien nur so nach Freiheit und verlangen nach Raum zur Entfaltung. Wer möglichst viele unterschiedliche Werke von Anthony Cragg an nur einem Ort sehen möchte, der ist im MKM genau richtig. Wer Skulpturen im freien Raum sehen und sich von ihrer raumgreifenden Kraft und vielseitigen Entfaltung überraschen lassen möchte, sollte vielleicht lieber einen Besuch im künstlereigenen Skulpturenpark erwägen.

 

Nathalie Dimic


 

 

Unter dem Titel „Dinge im Kopf” präsentiert das MKM eine retrospektiv angelegte Werkschau des Künstlers Anthony Cragg. Knapp 40 Skulpturen, Zeichnungen, Photographien und Graphiken aus insgesamt vier Jahrzehnten eröffnen dem Besucher einen Einblick in das Oeuvre des Künstlers und ermöglichen der Betrachterin einzelne Etappen und Zwischenschritte des künstlerischen Werdegangs anhand der zahlreichen Arbeiten nachzuvollziehen.
Die Werkschau „Anthony Cragg - Dinge im Kopf” ist noch bis zum 13. Juni 2011 im MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst in Duisburg zu sehen.

 

 

 

 

Anthony Cragg ist einer der bedeutendsten Bildhauer der Gegenwart. 1949 in Liverpool geboren, arbeitet er zunächst als Labortechniker in der Chemieindustrie, bevor er 1969 sein Kunststudium aufnimmt. Nach seinem Abschluss am Royal College of Art in London und einer Professur an der Ecole des Beaux Arts de Metz, zieht er 1977 nach Wuppertal und beginnt im darauffolgendem Jahr seine Lehrtätigkeit an der Kunstakademie Düsseldorf. In den folgenden Jahren reihen sich namenhafte Ausstellungsorte, Auszeichnungen sowie Lehraufträge und Mitgliedschaften an renommierten Kunstakademien aneinander, zum Beispiel: Die Teilnahme an mehreren Ausgaben der Biennale von Venedig und der Documenta in Kassel, Ausstellungen im Palais des Beaux-Arts in Brüssel, Centre Georges Pompidou in Paris, Tate Gallery in Liverpool und zuletzt im Pariser Louvre. 2008 eröffnet Anthony Cragg den Skulpturenpark „Waldfrieden“ in Wuppertal und 2009 wird er zum Rektor der Kunstakademie Düsseldorf ernannt.

 

21.06.2011 11:51 (Kommentare: 0) | Weiterempfehlen

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