Craggs 60. Geburtstag
Tony Cragg läßt den „Skulpturenpark Waldfrieden“ entstehen
Seine Arbeit als Bildhauer nahm ihren Anfang ganz unten. Cragg begann noch als Student Abfall und Reststoffe zu sammeln, wie sie sich am Ende der industriellen Verwertungsketten überall absondern. Pappkartons und Plastikmüll, Treibholz und Schaumgummi, Autoschrott und Bauschutt wurden seine “armen” Materialien. Craggs eigene, erotische Zuneigung zur Welt, machte daraus neue, reiche, erstaunliche formbewußte und fantasiebeflügelnde Welt von Plastiken. “Fundstücke” nennt Cragg sie lapidar. Schon mit 28 Jahren verließ er seine britische Heimat und siedelte sich in Wuppertal an - mitten in einem der weitläufigsten Industriegebiete der Welt.
Seine in jungen Jahren gelungene Befreiung von traditionellen bildhauerischen Formen und Materialien, seine heute erlangte phantastische Bandbreite an materieller und formaler Freiheit überträgt sich auf den Betrachter: Die Begegnung mit dem Werk Craggs wird leicht als Befreiung erlebt. Seine spielerische Phantasie vermag spielerische Augenlust freizusetzen. Doch nicht Grenzüberschreitung und die Auflösung von Gattungsgrenzen sind sein Ziel, sondern die Erfindung neuer plastischer Entwürfe, zusammengefügt von Craggs strengem, akademisch fundiertem Formvermögen. Der Künstler als Resteverwerter einer Gesellschaft im Überfluß. Es mag Craggs Grusel vor diesem Überfluß gewesen sein, der ihn zu armen Materialien und einfachen, eher strengen Formen finden ließ.
Schon als Student an der Wimbledon School of Arts, später am Royal College of Art sammelt er mit Leidenschaft so ziemlich alles, was ihm in die Quere kam Pappkartons, Ziegelsteine, Plastikschrott und Holzkisten, fügt sie zu wunderlichen “Lines”, “Stacks”, “Minsters” und “Landcapes” zusammen und wurde zu einem der bedeutendsten Bildhauer des 20. Jahrhunderts. Sein größtes Fundstück fand der 1949 in Liverpool geborenen Künstler erst vor wenigen Jahren, dreißig Jahre nach seinem Aufbruch. Ganz in der Nähe seiner Werkstatt im Bergischen Land, seiner Wahlheimat seit 1977, stieß Tony Cragg auf ein eigenartiges Stück “Landscape”.
Das “Tony Cragg Studio” ist in monumentalen, ausgedienten Panzerhallen weit außerhalb von Wuppertal untergebracht. Keine drei Kilometer von hier fand er auf einem waldreichen Hanggrund die leerstehende Villa des Wuppertaler Industriellen Herberts in fortschreitenden Verfall.
Wie dieses anthroposophische Landhaus mit seiner kostbaren Innenausstattung kurz nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet werden konnte, ist eine der vielen Fragen, die sich um “Waldfrieden” ranken. Cragg konnte Hang und Villa (oberhalb Wuppertal-Unterbarmen) erwerben und gründete auf dem gut 16 ha großen Grundstück den “Skulpturenpark Waldfrieden”. Im vergangenen Herbst konnte Einweihung gefeiert werden.
Der Mount Cragg erhebt sich zwar nur knapp 200 Meter über der Stadt, verspricht aber ein Gigant unter den Künstlerbergen und Künstlerolymps zu werden, ein Zentralmassiv zeitgenössischer Bildhauerei. - Voller Steil- und Überhänge, Überdehnungen und scharfen Kanten, drohender rostiger Riesen und verlockender spiegelblank polierter Rundungen.
“Waldfrieden” ist voller Tücken und Verlockungen. Sicher aber der hinreißendste Ausflug in das Figurenreich des Tony Cragg und seines in aller Welt begehrten bildhauerischen Werks. Ein Ginkgo Biloba, in Erinnerung an Goethe und Rudolf Steiner, darf hier nicht fehlen.
Mit Hilfe des Architekten Rudolf Hoppe (HRS-Architekten) baute Cragg das sonderliche Areal zu einem Skulpturenpark der Sonderklasse aus, Lehrgarten und Zauberwald in einem. In der Mitte die Villa Herberts, die sich der Industrielle Kurt Herberts 1946/47 in ausgeprägt anthroposophischem Stil von Franz Krause errichten ließ. Der Lackfabrikant aus Barmen beauftragte von 1937 bis 1944 Künstler wie Willi Baumeister, Oskar Schlemmer, Alfred Lörcher und Georg Muche, die von den Nationalsozialisten geächtet und mit Berufsverbot belegt worden waren. Die Villa Herberts stand seit über 15 Jahren leer, diente Scientology schon mal zu abendlichen Treffen und stand kurz davor, zur Totengedenkstätte des angrenzenden Krematoriums zu werden. Cragg ließ die Villa aufwendig restaurieren, will sie aber weder als Wohn- noch als Ausstellungshaus nutzen. So steht sie da als frühes Beispiel einer plastisch-organischen Architektur: fließende Form, begehbare Großskulptur und leere Mitte. Drumherum hat der Cragg 17 seiner Außenskulpturen u. a. aus den Serien “early forms”, “organs and organisms” und “rational beings” ins hügelige Terrain eingefügt.
Die Großformen stehen hier nicht als point de vues am Ende von Wegen und Blickachsen, sondern sind eher beiläufig, eher diskret am Wegesrand plaziert. Cragg schätzt die Abwechslung und Freiheit des Betrachters. Ein lebendiger Dialog beginnt. Und nie ist man bei Cragg vor Überraschungen gefeit. Selbst tonnenschwere Bronzen sind voller Grazie, Humor und Poesie. Die monumentalen Teile sind der Natur beigesellt und finden in den Architekturen des Parks, der Villa und auch der neuen gläsernen Ausstellungshalle ein reizvolles Gegenüber.
Die neue Ausstellungshalle wurde über dem ehemaligen offenen Schwimmbad der Villa errichtet. Hier will Cragg Künstlerfreunde und die für den Weg der modernen Skulptur wichtigen Tendenzen in Erinnerung rufen. Den Anfang machte die arte povera und ihr Meister Mario Merz, am 15. Mai folgt eine Ausstellung zu Dubuffet.
Tony Cragg, der seit 1977 in Wuppertal lebt und arbeitet, kehrte nach einem kurzen Gastspiel als Professor an der Berliner UDK an die Kunstakademie Düsseldorf zurück. Dort leitet er wie schon in den Jahren 1988-2001 eine Bildhauerklasse. Als man ihn dort unlängst bat, die Nachfolge von Markus Lüpertz als Akademierektor anzutreten, lehnte er dankend ab. Sein Skulpturenparkprojekt nahm in bereits in Anspruch. “Waldfrieden” ist Craggs bevorzugte Spielweise.
Die Karlsruher Kunsthalle würdigt Cragg derzeit mit einer großen Werkschau (bis 3. Mai). Am 6. Mai wird die Galerie Thaddaeus Ropac in Paris neue Werke vorstellen: Tony Cragg, New Sculptures, (6. Mai bis 13. Juni)
17.06.2011 15:27 (Kommentare: 0) | Weiterempfehlen
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